Die Serie „Blickwinkel“ erscheint alle 14 Tage in unserem Newsletter. Hier schreiben Mitarbeitende des schwere reiter über ihre Arbeit, geben Einblick hinter die Kulissen, porträtieren Künstler*innen, beleuchten kulturpolitische Aspekte oder informieren über wichtige Belange des schwere reiter.

Was darf Kunst noch fragen? | Blickwinkel 10/25

Liebe Leser*innen,

Warum ist Kunst relevant? Soll sie sich politisch positionieren? Und wenn ja, wie, ohne vereinnahmt zu werden? Diese Fragen standen im Zentrum des flausen+Bundeskongresses „Freie Theater im Gegenwind. Mut zum Wandel“, der vergangene Woche in Chemnitz stattfand.

 

Denn der Gegenwind ist real: In politischen Haushalten, wo Kultur schnell zur Kür erklärt wird. In gesellschaftlichen Diskursen, in denen die Vielstimmigkeit der Freien Szene – ihr experimenteller, queerer, dezentraler Charakter – zunehmend unter Druck gerät. Besonders deutlich zeigt sich das in Regionen, wo noch mehr als anderswo rechtsextreme Haltungen selbstverständlicher Teil der politischen Realität sind.

Wie also umgehen mit dieser Lage? Position beziehen – oder lieber stillhalten? Und was sagt es über unsere Zeit, wenn gerade der Raum, der Ambivalenz aushalten kann, selbst infrage gestellt wird?

 

Dabei lohnt es sich, zwei Perspektiven zu unterscheiden: Die eine ist die der Kunst selbst – eigensinnig, suchend, oft mehr fragend als antwortend. Die andere ist die der Kulturpolitik, die zunehmend mit dem Begriff der „gesellschaftlichen Relevanz“ operiert und der Kunst konkrete Aufgaben zuschreibt: Sie soll integrieren, Haltung zeigen, Demokratie stärken. Doch decken sich diese Erwartungen mit künstlerischer Praxis? Und umgekehrt: Was fordert die Kunst von der Kulturpolitik? Verlässlichkeit? Freiräume? Schutz vor funktionaler Überforderung? Die Debatte wird produktiver, wenn diese Blickrichtungen nicht vermischt, sondern als jeweils eigenständig anerkannt werden.

 

Und vielleicht geht es dabei gar nicht in erster Linie um Mut. Was in Chemnitz spürbar wurde – im Austausch zwischen Künstler*innen, Theatermacher*innen, Förderinstitutionen – war vielmehr: Alle spüren, dass sich etwas verändert. Dass ein Wandel im Raum steht, ob als Bedrohung oder als Möglichkeit. Die Soziologie spricht vom Verlust gemeinsamer Narrative, von einer Gesellschaft in einer Resonanzkrise.

 

Die eigentliche Frage ist also: Welche neuen Geschichten lassen sich erzählen? Geschichten, die verbinden, statt zu spalten. Welche Narrative braucht die Gesellschaft – und welche braucht die Kunst? Wie lassen sie sich finden? Und durch wessen Stimmen, in wessen Räumen, mit welcher Sprache?

Gerade die Freie Szene, mit ihrem Mut zum Experiment, mit ihrer Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit, könnte ein Ort sein, an dem solche Narrative entstehen – nicht als fertige Antworten, sondern als verhandelbare Ergebnisse einer stetigen Suche.

 

Ein starkes Beispiel für das Spektrum an Perspektiven war die Debatte

(hier nachzuhören) zwischen Sasha Marianna Salzmann, Philipp Ruch und Simon Strauß im Rahmen der vom Fonds Darstellende Künste ausgerichteten Reihe „Die Kunst, Viele zu bleiben“. Während Ruch die Kunst als politisch ohnmächtig beschrieb, sah Strauß in ihr eine gesellschaftsrettende Kraft. Salzmann wiederum sprach über die ganz persönliche Kraft des Schreibens. Keine Einigkeit – aber ein starkes Plädoyer für Vielstimmigkeit.

 

Nicht zuletzt: Chemnitz selbst war mehr als nur Kulisse für diesen Kongress. Als Kulturhauptstadt Europas 2025 trägt die Stadt das Motto „C the unseen“ – und tatsächlich sehen viele sie zum ersten Mal. Zwischen ehemaligen Fabrikhallen, dem überlebensgroßen Karl-Marx-Kopf („Nischel“) und neuen Kulturorten und Zwischennutzungsprojekten zeigt sich ein Ort im Umbruch, an der Schnittstelle von Vergangenheit, Bruch und Aufbruch. Also genau der richtige Platz für eine solche Debatte.

 

Auch wir am schwere reiter wollen Räume schaffen, in denen das Suchende, Unfertige und Viele Platz hat, Widerspruch und Reibung ausgehalten werden. Nicht als Statement, sondern als Haltung. Und wir laden Sie ein, Teil davon zu sein.

 

Andreas Schlegel (Geschäftsführer)

und Anna Maria Zimmermann (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)

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